MAGDALENE MAIER-LEIBNITZ

25. Januar 1916 – 22. April 1941

Sandra Brand und Alexandra Ripperger, 2023, Acryl auf Leinwand, 80 x 100 cm

Foto: In Esslingen, 1929/1930
Text: basiert auf der Biografie aus »Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ während des Nationalsozialismus. Strukturen – Orte – Biographien«, Gudrun Silberzahn-Jandt, Esslinger Studien, Schriftenreihe 24, Verlagsgruppe Patmos, 2015

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Thea Nodes über Magdalene Maier-Leibnitz

Sandra Brand und Alexandra Ripperger suchten ein Foto aus, das Magdalene im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren zeigt, mit langen Zöpfen und einem wunderschönen Kleid. Das Foto wurde in Esslingen aufgenommen. Zu dieser Zeit besuchte Magdalene das Georgii-Gymansium in Esslingen, eine Schule für Kinder aus gebildeten und begüterten Familien. Magdalene lernte Klavier spielen, schrieb Gedichte und malte sehr gerne. Und sie liebte die Berge. Vielleicht war sie kurz bevor das Foto aufgenommen wurde wieder im Haus Schöneck in Arosa. Dort verbrachte die Familie oft die Ferienzeit. Sandra kam vor Beginn des Projektes aus dem Stubaital zurück, in voller Begeisterung für die Landschaft. »Ich habe Berge auf unser Bild gemalt, so haben Magdalene und ich etwas gemeinsam«, meinte sie.

»Drum sind die Berg’ mir lieb. Es zwingt mich stets ein Trieb, auf Bergeshöhn zu steigen, vor ihnen mich zu neigen!«, so endet ein Gedicht, das Magdalene mit dreizehn Jahren an ihren Großvater schrieb. Der Aufenthalt in dieser Landschaft schenkte ihr kleine Freiheiten. Verpflichtungen und Zwänge, die das Leben zuhause und das strenge Lernen in der Schule mit sich brachte, konnte sie für Tage hinter sich lassen. Als Magdalene auf die Welt kam, war ihr Vater vom Kriegseinsatz beurlaubt. Bildung und wirtschaftliches Können, Fleiß und Ehrgeiz kennzeichneten die Familie. Nicht nur der Sohn, sondern auch die beiden Töchter sollten eine ausgezeichnete Bildung erhalten. Daraus resultierten hohe Erwartungen der Eltern an ihre Kinder.

Magdalene war eine durchschnittliche Schülerin, ihre Stärke lag im Erlernen von Sprachen. Körperlich war sie ein eher schwaches und kränkliches Kind. Sie litt unter häufigen Bronchitiden und musste sich früh einer Blinddarmoperation unterziehen. In der Schule fehlte sie immer wieder für längere Zeit. Ihre gestalterischen Arbeiten brachten ihr viel Lob ein. Mir bleibt eine kleine, aber für mich exemplarische Begebenheit in Erinnerung, die in der Biografie erzählt wird. Eine Tante bedankte sich für einen Scherenschnitt, lobte die Geschicklichkeit, wies aber auf kleine Unglücksstellen hin, die man, so schrieb sie, wiederum gar nicht sehen konnte und die niemand bemerkte.

Nur kurze Einblicke in Magdalenes Leben sind hier möglich. Eine ausführliche Biografie findet sich in der Publikation von Frau Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt (siehe Literaturhinweise). Grundlage ihrer Recherche waren 239 überlieferte, von Magdalene Maier-Leibnitz vor allem an die Mutter gesandte Briefe und Karten sowie die Krankenakte, übrig geblieben von einem Leben, das durch das NS-Regime auf brutalste Weise ausgelöscht wurde.

1931 suchten die Eltern erstmals Hilfe für Magdalene in der Klinik Bircher-Benner in Zürich. Man konnte dort manche ihrer Symptome lindern, aber viele unspezifische Beschwerden blieben. Ab dem 6. Mai 1932 besuchte sie die Internatsschule Schloss Salem. Dort sollte eine Elite herausgebildet werden und Magdalene blieben wenig Freiräume. Disziplin, Strenge, Zielstrebigkeit, Ehrlichkeit und Selbstkontrolle wurden verlangt. Die Briefe aus dieser Zeit zeigten Magdalene unter Zeit- und Erwartungsdruck.

Im März 1934 wurde Magdalene im Haus Aichele in Beuren aufgenommen. Ihre Berichte von dort waren sehr sprunghaft. Sie erlebte ihr »eigenes Durcheinander« als sehr irritierend. »Es wäre schön, wenn Krankheit immer nur eingebildet wäre. Dann wäre ich gesund«, schrieb sie in einem der Briefe an die Mutter.

Am 9. Oktober 1934 trat Magdalene in das Internat Marquartstein im Chiemgau ein, eine Einrichtung, die ein reformpädagogisches Konzept mit liberaler Ausrichtung vertrat. Am 11. Mai 1935 kehrte sie nach einem Spaziergang nicht mehr nach Marquartstein zurück. Sie lernte einen jungen Mann, Alfred Jarosch, kennen und war mit ihm eine Woche unterwegs. Sie wurde polizeilich gesucht und aufgegriffen, ärztlich behandelt und im Kurheim Hohenpeißenberg untergebracht. Über das, was in dieser Woche passierte, gab es verschiedene Varianten, je nachdem, wer darüber berichtete, Ärzte, Eltern oder Magdalene selbst. Es folgten weitere Aufenthalte in Sanatorien, in Privatkliniken und in der Universitätsklinik Tübingen.

Magdalene litt an vielfältigen Krankheitsbildern: Blutarmut, mangelnde Blutzirkulation, Ohnmachtsanfälle, Kopfschmerzen, Störungen der Schilddrüse, Magen-Darmstörungen, um nur einige zu nennen. Sie war schüchtern und ehrgeizig. Eigenartigkeiten, die wir als Mensch haben, mutierten zu psychiatrischen Begrifflichkeiten. Charaktereigenschaften wurden pathologisiert. Mit jedem neuen Aufenthalt in einer Klinik wurden die Grenzen zwischen »normal« und »verrückt« aufs Neue konstruiert. Die Somatik war nicht Ursache sondern blieb ein Nebenbefund. Es gäbe kein beweisendes Symptom für Schizophrenie, hieß es ein andermal. Alle Eigenschaften seien verständlich zu erklären, unter anderem mit reaktiven Erscheinungen nach schockartigem Erlebnis im Sinne einer psychogenen Depression. Je eindeutiger die psychiatrische Erkrankung als diagnostisch gesichert galt, desto knapper und unbedeutender und weniger schwerwiegend wurden in der Amnanese ihre vorherigen somatischen Erkrankungen dargestellt. In der Universitätsnervenklinik Tübingen zeigte Magdalene Maier-Leibnitz keine der wesentlichen Elemente von Schizophrenie wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Die Ärzte formulierten trotzdem den Verdacht einer Schizophrenie und bestätigten schließlich die Erkrankung, ohne genauere Erläuterungen, welche Gründe zu dieser Diagnose geführt hatten.

Im Januar 1938 kam Magdalene in die Privatklinik Kennenburg. Von dort wurde sie am 27. März 1941 in die psychiatrische Landesklinik Weinsberg verlegt und am 22. April 1941 mit dreiundsechzig weiteren Patienten nach Hadamar transportiert, wo sie in der Gaskammer ermordet wurde. Am 8. Mai 1941 erreichte die Eltern ein sogenannter Trostbrief, in dem Magdalenes Verlegung nach Sonnenstein und ihr unerwarteter Tod »an einer durch Lungentuberkulose hervorgerufenen Lungenblutung« mitgeteilt wurde.

Ich möchte einen sehr persönlichen Gedanken anfügen. Ich litt lange Jahre – auch schon in der Kindheit – unter vielfältigen psychosomatischen Auffälligkeiten, deren Auslöser ich heute kenne. Ich habe das Glück, in einer Zeit zu leben, in der man psychosomatische Krankheiten erkennen und behandeln kann. Wie wäre es mir und meiner Tochter Sandra – sie hat das Down-Syndrom – in Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft ergangen? Diese Frage stelle ich mir oft.

Und ein Gedanke lässt mich nach wochenlanger Beschäftigung mit dem Schicksal der jungen Frau Maier-Leibnitz nicht los. Wie hätte Magdalene sich entwickelt, wenn sie frei gewesen wäre von hohen Erwartungen, schulischem Druck und strenger Regelhaftigkeit, ohne überhöhten Anspruch auf ihre Charakterbildung? Wenn sie die musische Veranlagung hätte ausleben dürfen, ohne den ständigen Wechsel von Sich-Befreien und wieder einordnen in Elternhaus, Schulen und Kliniken? Was wäre gewesen, wenn man ihre Krankheiten als Hilferuf verstanden und sie akzeptiert hätte mit all ihren »Unglücksstellen«. Magdalene liebte die Natur, aus dieser Liebe schöpfte sie Kraft. Aber die Kraft reichte nicht aus, ihre stetige Selbstkritik und ihre negativen Emotionen zu vertreiben. In einem der 239 Briefe schrieb sie, dass sie sich abtöten und tapfer sein muss. »Man muss besser merken, dass ich eigentlich was kann.«