ELISABETH WILLKOMM
15. Dezember 1912 – 20. Oktober 1942
Thea Nodes, 2023, Acryl auf Leinwand, 80 x 100 cm
Foto: Elisabeth Willkomm (Mitte) mit ihren Schwestern Käthe und Marie
Text: basiert auf der von Maria Hanna Gudemann verfassten Biografie auf »Gedenkort T4«
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Thea Nodes über Elisabeth Willkomm
Mai 1925, an einem der ersten warmen Frühlingstage. Elisabeth, von allen Liesel genannt, sitzt mit ihren Schwestern Käthe und Marie im Gras. Verschmitzt lächelt sie in die Kamera. Mir fällt eine kleine Zahnlücke und ein Grübchen an ihrem Kinn auf, die hellen Haare sind von einem Reif gehalten. Als ich bei meinen Recherchen zum Projekt auf dieses Foto gestoßen bin, wusste ich sofort, dass ich diese kleine Gruppe malen möchte. Die Nähe, die die Geschwister zueinander hatten, war spürbar und berührte mich sehr. Vielleicht wurde die Aufnahme im Garten des Anwesens in Kleinmachnow gemacht, in das die Familie Willkomm 1924 gezogen ist. Ein Garten, der sich mit seinen alten Eichen und Kiefern einen Waldcharakter erhalten hat und mit seiner lichten, weitläufigen Wiese zum Ruhen und Picknicken einlädt. Liesel hatte viel hinter sich, bevor sie nach Kleinmachnow kam und mit ihrer großen Familie in das Haus am »Zehlendorfer Damm 71« einzog. Vielleicht konnte Liesel sich eines der schönen, der Sonne zugewandten Zimmer mit den beiden Lieblingsschwestern teilen?
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg musste Liesel mit ihrer Familie ihren Geburtsort Riedesheim im Elsaß verlassen, um im fast siebenhundert Kilometer entfernten Planitz in Sachsen bei Verwandten unterzukommen. Ihre Familie: Vater, Mutter und elf Geschwister. Nicht überliefert und kaum vorstellbar wie die Familie diese beschwerliche Reise in der Nachkriegszeit gemeistert hat. Man weiß nur, dass jedes der zwölf Kinder mit einem Rucksack ausgestattet war. Die Rucksäcke wurden von Gemeindemitgliedern in einer Nachtaktion genäht, denn zur Ausreise blieb nicht viel Zeit. Wie mitfühlend und zupackend müssen die sächsischen Verwandten gewesen sein, um dreizehn Menschen in Not aufzunehmen?
Es muss bewegend gewesen sein für die Familie, nach all den Strapazen und Ungewissheiten in das beschauliche Kleinmachnow zu kommen. In ein kleines Dorf, an einem idyllischen See gelegen, an dessen Nordufer sich die Hakeburg erhebt. Liesels Vater Martin war Pfarrer. Er übernahm die Leitung der neugegründeten Theologischen Hochschule, untergebracht in einem ehemaligen Seemannserholungsheim, das 1922 von der Evangelisch-Lutherischen Freikirche gekauft worden war.
Von Liesel weiß man, dass sie gerne gesungen hat und sich – inspiriert durch ihren Vater – für Theologie interessierte. Sie hielt sich oft in seiner Bibliothek auf, denn sie liebte das Lesen. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie gerne Liesel an dieser Hochschule studiert hätte, intelligent, aufgeschlossen und wissbegierig wie sie war. Aber als Frau war ihr der Beruf der Pfarrerin verwehrt, denn erst ab 1943 wurde Frauen in Deutschland von der Lutherischen Kirche eine Ordination ermöglicht. Und ich kann mir denken, dass nicht jedem Willkomm-Kind eine Berufsausbildung ermöglicht werden konnte, da die finanziellen Mittel begrenzt waren. So beugte sich Liesel wohl, erlernte keinen Beruf, hatte aber vielleicht doch Freude daran, in Haushalten mitzuhelfen und Kinder zu betreuen.
Über ihr Leben gibt es nicht viel zum Nachlesen. Liesel war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Es gab wohl eine Beziehung zu einem Mann, von dem nur die Initialen »A.S.« bekannt waren. Möglicherweise war den Eltern die Beziehung ihrer Tochter zu diesem Mann nicht genehm. Zum ersten Mal trat Liesels Krankheit im Jahr 1931 auf. Der Vater nannte sie »die böse Krankheit«. Liesel wurde in einer Klinik in Nikolassee behandelt. Ableiten kann man aus den späteren Aussagen der Geschwister, die Liesels Krankheit mit »Melancholie« oder »Schwermut« bezeichneten, dass sie unter einer Depression litt.
Im Oktober 1942 ging es Liesel wieder schlecht. Sie arbeitete zu diesem Zeitpunkt im Haushalt eines älteren Ehepaars, das die Eltern über Liesels wirren und traurigen Zustand informierte. Die Eltern holten ihre Tochter nach Hause. Zwei Tage später mussten sie jedoch einen Arzt herbeirufen, der eine Einweisung in ein Krankenhaus ausstellte. Die Mutter brachte Liesel in die Wittenauer Heilstätten, eine psychiatrische Klinik in Berlin.
Diese Klinik spielte eine zentrale Rolle in den Plänen der Nationalsozialisten. Was die Eltern nicht wussten: Die Tötung physisch und psychisch kranker Menschen war auch dort auf perfide Weise in Gange. Was genau in den Wittenauer Heilstätten während der NS-Herrschaft geschah wurde jahrzehntelang geheim gehalten. In der Nachkriegszeit glaubte man lange Zeit, die Akten aus der Zeit von 1933 bis 1945 seien verloren gegangen, vernichtet von NS-Ärzten, die ihre Spuren verwischen wollten. Erst 1984 entdeckte eine Gruppe um den Historiker Götz Aly die vermeintlich verschollenen Akten, vergraben unter 90.000 Dokumenten in den Archivkellern des Krankenhauses.
Mit welchem Vertrauen die Eltern Liesel in die Heilstätte brachten, geht aus einem Schreiben des Vaters an die Familie hervor: »Dort hat sie dann auch eine gute Aufnahme gefunden … ließ sich ganz ruhig wegbringen und hat unterwegs der Mutter keine Not gemacht… . Wir hoffen zu Gott, dass das der rechte Platz ist und bitten Ihn, dass Er als der rechte Arzt für Seele und Leib ihr bald wieder zur Gesundheit und Klarheit verhelfe. Sie zuhause zu behalten, hätten wir nicht verantworten können.« Er beschreibt auch, wie zuversichtlich Liesel gewesen sei, wie geborgen sie sich in der Fürsorge und der Entscheidung der Eltern gefühlt hatte. Sie wolle das Kreuz auf sich nehmen und es geduldig ertragen. Man solle für sie beten wünschte sich Liesel.
Am 16. Oktober 1942 wurde Liesel in die Landesanstalt Neuruppin verlegt, nur sieben Tage nach der Aufnahme in die Wittenauer Heilstätten. Vier Tage später, am 20. Oktober, war sie tot. Der Familie teilte man mit, dass sie an Herzmuskelschwäche gestorben sei. Die Eltern wollten nicht, dass Liesels Bruder Friedel, der große Zweifel an der Diagnose hegte, Nachforschungen anstellt. Am 26. Oktober wurde Liesel auf dem Waldfriedhof Kleinmachnow bestattet.
Ab August 1941 bis zum Ende des Krieges wurde in Heil- und Pflegeanstalten durch gezielte Mangelernährung und durch Medikamentenüberdosierung systematisch gemordet. Den Angehörigen teilte man – wie in Liesels Fall – erfundene Diagnosen mit.
Zur Stolpersteinverlegung am 20. Februar 2019 reisten Mitglieder und Nachfahren der Familie Willkomm aus Deutschland und den USA nach Kleinmachnow. Dort wurde der Erinnerungsstein vor Liesels ehemaligem Wohnort verlegt. Hanna Gudemann, die Enkelin von Liesels Schwester Marie, die zum Schicksal ihrer Großtante forscht, sagte in ihrer Rede zur Gedenksteinverlegung: »Auch in unserer Familie hat es Jahrzehnte gedauert, das Tabu zu brechen und ein würdiges Gedenken an Liesel möglich zu machen, das die Umstände ihres Todes nicht verschweigt! … Lasst uns Liesels Andenken als Anstoß nehmen, aufeinander zu achten, uns gegenseitig zu unterstützen und den Ideologien der Menschenverachtung immer etwas entgegenzusetzen!«
Am Tag der Stolpersteinverlegung war neben dem Stein das Foto von Liesel, Käthe und Marie aufgestellt. Das Foto, das ich dankenswerterweise als Grundlage für mein Bild nehmen durfte und das ich in Erinnerung an Liesel und ihre Familie so gerne gemalt habe.